Übersetzung: Iranische Anarchisten über den Protest als Reaktion auf die Ermordung von Mahsa Amini

Posted: September 27th, 2022 | Author: | Filed under: Uncategorized | No Comments »

Wir haben das Interview von Black Rose Anarchist Federation in englisch Veröffentlich auf itsgoingdown.com (https://itsgoingdown.org/iranian-anarchists-on-protests-in-response-to-police-murder-of-mahsa-amini/) mit der Förderation des Anarchismus Era übersetzt.
Möge der Feminismus der Iraner*innen das religöse Patriarchat zerschlagen! In Solidarität und Liebe!

– Haus der Unbekannten am 27.09.22

 

 

Black Rose Anarchist Federation spricht mit Mitgliedern der Federation of Anarchism Era, einer Organisation mit Mitgliedern sowohl im Iran als auch in Afghanistan, über den jüngsten Aufstand im Iran.

Am 13. September 2022 wurde die 22-jährige Mahsa Amini von einer iranischen Guidance Patrol (auch bekannt als „Sittenpolizei“) verhaftet. Mahsa wurde in Teheran verhaftet, weil sie sich nicht an die Bekleidungsvorschriften gehalten hatte. Drei Tage später, am 16. September, teilte die Polizei der Familie von Mahsa mit, dass sie ein „Herzversagen“ erlitten habe und zwei Tage lang ins Koma gefallen sei, bevor sie verstarb.

Augenzeugenberichte, darunter der ihres eigenen Bruders, machen deutlich, dass sie bei ihrer Festnahme brutal geschlagen wurde. Durchgesickerte medizinische Scans deuten darauf hin, dass sie eine Hirnblutung und einen Schlaganfall erlitten hatte – Verletzungen, die letztlich zu ihrem Tod führten.

In den Tagen nach Bekanntwerden dieser Details kam es in ganz Iran zu Massendemonstrationen, bei denen die Ermordung von Mahsa durch die Polizei beklagt wurde.

Um diese sich rasch verändernde Situation besser zu verstehen, haben wir ein sehr kurzes Interview mit der Federation of Anarchism Era geführt, einer Organisation mit Sektionen im Iran und in Afghanistan.

Dieses Interview wurde zwischen dem 20.9.22 und dem 23.9.22 geführt.

Schwarze Rose / Rosa Negra (BRRN): Bitte gebt zunächst eine kurze Beschreibung der Anarchistischen Föderation von Era.

Föderation des Anarchismus Era (FAE): Die Federation of Anarchism Era ist eine lokale anarchistische Föderation, die im so genannten Iran, Afghanistan und darüber hinaus aktiv ist.

Unsere Föderation basiert auf der Synthese des Anarchismus und akzeptiert alle anarchistischen Tendenzen außer nationalistischen, religiösen, kapitalistischen und pazifistischen Tendenzen. Unsere langjährige Organisationserfahrung in extrem repressiven Umgebungen wie dem Iran hat uns dazu gebracht, eine aufständische Organisationstaktik und Philosophie zu entwickeln und anzuwenden.

Wir sind eine atheistische Organisation und betrachten Religion als eine hierarchische Struktur, die älter und beständiger ist als fast alle anderen autoritären Systeme und dabei dem Kapitalismus und anderen autoritären sozialen Strukturen, die die Menschheit heute versklaven, viel zu ähnlich ist. Zum Klassenkampf gehört aus unserer Sicht auch der Kampf gegen die klerikale Klasse, die uns unserer Freiheit und Selbstbestimmung beraubt, indem sie das Heilige und Tabu definiert und mit Zwang und Gewalt durchsetzt.

BRRN: Wer war Mahsa Amini? Wann, warum und wie wurde sie getötet?

FAE: Mahsa Amini, von ihrer Familie Zhina genannt, war eine gewöhnliche 22-jährige Kurdin aus der Stadt Saghez (Saqez) in Kurdistan.

Sie reiste mit ihrer Familie nach Teheran, um Familien zu besuchen. Am 13. September wurde Mahsa in Begleitung ihres Bruders Kiaresh Amini von der Sittenpolizei oder der so genannten „Guidance Patrol“ wegen „unangemessenen Hidschabs“ verhaftet. Ihr Bruder versuchte, sich der Verhaftung zu widersetzen, aber die Polizei setzte Tränengas ein und schlug auch Kiaresh.

Viele andere verhaftete Frauen wurden Zeugen des Geschehens im Polizeiwagen. Auf dem Weg zur Polizeiwache kam es zu einem Streit zwischen den inhaftierten Frauen und den Cops. Mahsa Amini war eine der Frauen, die gegen ihre Verhaftung protestierte. Sie sagte, sie sei nicht aus Teheran und solle freigelassen werden.

Die Polizei wandte körperliche Gewalt an, um alle inhaftierten Frauen zum Schweigen zu bringen. Auch Mahsa wurde verprügelt. Augenzeugen berichteten, dass die Polizeibeamten Mahsas Kopf hart gegen die Seite des Polizeiwagens schlugen.

Sie war noch bei Bewusstsein, als sie in der Behörde für Moralische Sicherheit ankam, aber die anderen inhaftierten Frauen bemerkten, dass sie nicht gesund aussah. Die Polizei zeigte sich völlig gleichgültig und beschuldigte sie der Schauspielerei. Die Frauen protestierten weiter, um Mahsa zu helfen, die notwendige medizinische Versorgung zu erhalten. Die Proteste wurden von der Polizei mit Gewalt beantwortet. Mahsa Amini wurde von der Polizei erneut schwer geschlagen und verlor daraufhin das Bewusstsein.

Die Polizei wurde daraufhin aufmerksam und versuchte, sie wiederzubeleben, indem sie eine Brustmassage durchführten und ihre Beine hochlegte und massierten. Nachdem diese Versuche gescheitert waren, griff die Polizei andere Frauen an und konfiszierte alle Handys und Kameras, die den Vorfall aufgezeichnet haben könnten.

Nach langen Verzögerungen und der Suche nach den verlorenen Schlüsseln für den Krankenwagen wurde Mahsa ins Kasra-Krankenhaus gebracht.

Die Klinik, in die Mahsa Amini eingeliefert wurde, behauptete in einem Instagram-Post, Mahsa sei bei ihrer Einlieferung hirntot gewesen. Dieser Instagram-Post wurde später gelöscht.

Am 14. September berichtete ein Twitter-Account eines Freundes, der im Kasra-Krankenhaus arbeitet, dass die Polizei den Ärzten, Krankenschwestern und dem Personal gedroht habe, keine Fotos oder Videobeweise zu machen und die Eltern von Mahsa über die Todesursache zu belügen. Das Krankenhaus, das eingeschüchtert wurde, hat der Polizei gehorcht. Sie logen die Eltern an, dass es sich um einen „Unfall“ gehandelt habe und dass sie Mahsa zwei Tage lang an den lebenserhaltenden Maßnahmen angeschlossen hätten. Mahsa wurde am 16. September für tot erklärt. Ihre Todesursache aus den medizinischen Scans, die von Hacktivisten veröffentlicht wurden, zeigt Knochenbrüche, Blutungen und ein Hirnödem.

 

 

BRRN: Hat Mahsas Identität als Kurdin bei ihrer Verhaftung und ihrem Tod eine Rolle gespielt?

FAE: Zweifellos spielte die Tatsache, dass sie Kurdin in Teheran ist, eine Rolle bei Mahsas Tod. Aber das ist eine Realität, die alle Frauen im Iran erleben. Wir brauchen nicht lange zu suchen, um Videomaterial zu finden, das zeigt, wie die Sittenpolizei Frauen schlägt und in Polizeifahrzeuge zwingt, wie sie Frauen aus einem fahrenden Auto auf die Straße wirft und wie sie von Hijabi-Frauen wegen ihres „unpassenden Hijab“ schikaniert werden. Diese Videos zeigen nur einen winzigen Bruchteil der Hölle, die Frauen im Iran erleben.

Dass Mahsa am Tag ihrer Verhaftung mit ihrem Bruder zusammen war, war kein Zufallstreffer. In der patriarchalischen Gesellschaft des Irans sollten Frauen einen männlichen Verwandten, sei es ein Vater, Ehemann, Bruder oder Cousin, zu ihren Geschäften mitnehmen, um die Sittenpolizei abzuwehren und unliebsame Personen in der Öffentlichkeit abzuwehren. Junge Paare dürfen in der Öffentlichkeit nicht zu nahe beieinander gesehen werden, da sie sonst Gefahr laufen, von der Sittenpolizei verprügelt und verhaftet zu werden. Angehörige mussten Dokumente vorlegen, um ihre Ansprüche gegenüber der Polizei zu belegen. Die Verhaftung von Frauen wegen Lippenstiften und Nagellack war eine Realität, an die sich viele von uns Millennials im Iran lebhaft erinnern.

Ein weiterer Alptraum für Frauen im Iran ist die Bedrohung durch Säureanschläge wegen eines „schlechten Hijab“.

Patriarchat und religiöse Autokratie betreffen alle Frauen.

 

BRRN: Wie hat das iranische Volk von Mahsas Tod erfahren? Wie war die erste Reaktion der Bevölkerung?

FAE: Wie wir bereits erwähnt haben, gab es zu viele Augenzeugen. Keine noch so großen Drohungen hätten verhindern können, dass die Geschichte von Mahsas Tod durchsickert.

Es ist erwähnenswert, dass der Arzt, der Mahsa behandelte und der Fotojournalist, der Mahsas Zustand und die Notlage ihrer Familie dokumentierte, beide verhaftet wurden und ihr derzeitiger Status unbekannt ist.

Die erste Reaktion war Empörung. Die Menschen teilten bereits Mahsas Geschichte vom 14. September. Die Empörung war noch nicht groß genug für Proteste und Aufstände. Die Menschen dachten noch, Mahsa läge im Koma und es bestünde Hoffnung auf ihre Genesung. Dann wurde sie am 16. September für tot erklärt.

Zunächst gab es kleinere Proteste am Kasra-Krankenhaus, die von der Polizei aufgelöst wurden. Die Funken des aktuellen Aufstands wurden in Saghez, Mahsas Heimatstadt, gezündet.

 

BRRN: Welches Ausmaß haben die aktuellen Demonstrationen? Auf welche Gebiete des Landes konzentrieren sich die Demonstrationen?

FAE: Die Situation ist sehr dynamisch und ändert sich außergewöhnlich schnell. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels haben die Flammen des Aufstands 29 von 31 Provinzen des Irans in Brand gesteckt. Eines der Merkmale dieses Aufstands ist, dass er sich schnell auf große Städte im Iran wie Teheran, Tabriz, Isfahan, Ahvaz, Rasht und andere ausbreitet.

Qom und Mashhad, die ideologischen Hochburgen des Regimes, haben sich dem Aufstand angeschlossen. Auch die Insel Kish, das kapitalistische und kommerzielle Zentrum des Regimes, hat sich aufgelehnt. Dies ist der vielfältigste Aufstand, den wir in den letzten Jahren erlebt haben.

Für den 23. September planen die Syndikalisten einen Generalstreik zur Unterstützung der Proteste.

Das Regime hat für denselben Tag eine bewaffnete Demonstration geplant. Es ist viel los.

 

BRRN: Wie hat der iranische Staat auf diese Demonstrationen reagiert?

FAE: Die anfängliche Reaktion des Regimes war weniger brutal, als wir es bisher erlebt haben. Ein Grund dafür ist, dass sie unvorbereitet erwischt wurden. Sie haben nicht mit dieser starken Reaktion gerechnet. Der wichtigere Grund ist, dass Ibrahim Raisi bei der UNO ist. Das Fehlen hochrangiger Persönlichkeiten, die öffentliche Geschichte von Mahsa und die Proteste sowie der Druck auf die Regierung, die von der internationalen Gemeinschaft beobachtet wird, haben das Massaker vorerst gestoppt.

Versteht uns nicht falsch. Die Polizei hat vom ersten Tag der Proteste an viele Menschen getötet und verletzt. Unter ihnen waren auch 10-jährige Kinder und 15-jährige Jugendliche. Aber wir haben den November 2019 erlebt, als das Regime innerhalb von drei Tagen viele Tausend Menschen massakrierte.

Bei allen früheren Aufständen war die Polizei nicht direkt das Ziel des Zorns der Menschen. Diesmal nicht. Diesmal ist sie der Bösewicht und die Menschen sind auf ihr Blut aus. Das zermürbt sie physisch und psychisch, was wir als gute Nachricht werten.

Im Moment erleben Saghez und Sanandaj eine rücksichtslose Unterdrückung. Das Regime hat Panzer und schwere Militärfahrzeuge eingesetzt, um den Aufstand dort zu unterdrücken. Es gibt viele Berichte, dass mit scharfer Munition auf die Demonstranten geschossen wurde.

Die Proteste gehen weiter. Die Polizeiautos werden umgeworfen. Die Polizeistationen wurden geplündert und niedergebrannt. Wir müssen uns nur bewaffnen, indem wir ihre Waffenlager plündern. Dann treten wir in eine ganz andere Phase der Revolte ein.

 

BRRN: Ist es richtig, diese Demonstrationen als feministisch zu bezeichnen?

FAE: Ja, auf jeden Fall. Wie bei allen anderen Aufständen auch, gab es Entwicklungen und Bewegungen unter der Oberfläche.

Man kann sagen, dass das jüngste harte Vorgehen gegen den Hijab und die zunehmende Brutalität der Sittenpolizei eine Reaktion auf die spontane, autonome und feministische Selbstorganisation der iranischen Frauen war. Anfang dieses Jahres begannen Frauen im Iran, Personen und Geschäfte, die den Hidschab strikt durchsetzen, auf eine schwarze Liste zu setzen und zu boykottieren, z. B. Cafés. Die Bewegung war dezentralisiert und führerlos und zielte darauf ab, sichere Räume für Frauen und Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft zu schaffen.

Diese brutale Unterdrückung gipfelte in diesem Moment, in dem Frauen überall an vorderster Front stehen, ihre Kopftücher verbrennen und Polizisten ohne Hijab auf verprügeln. Der Hauptslogan des Aufstands lautet ebenfalls „Frau, Leben, Freiheit“, ein Slogan aus Rojava, einer Gesellschaft, deren Ambitionen auf einer anarchistischen, feministischen und säkularen Ideologie beruhen.

BRRN: Welche politischen Elemente (Organisationen, Parteien, Gruppen) sind an den Demonstrationen beteiligt, wenn überhaupt?

FAE: Bei jedem Aufstand versuchen viele Organisationen, Parteien und Gruppen, sich die Proteste zu eigen zu machen oder sie zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Die meisten von ihnen stießen bei diesem Aufstand auf ein unlösbares Problem.

Erstens: Die Monarchisten. Reza Pahlavi, der tote Sohn des so sehr toten früheren Schahs von Iran, eine Person, die durch gestohlenes Geld und Mediennetzwerke außerhalb Irans gestützt wird, rief inmitten der öffentlichen Empörung und der anfänglichen Proteste zu einem nationalen Trauertag auf, anstatt seine Ressourcen zur Unterstützung der Revolte einzusetzen. Die Menschen haben ihn schließlich als den Scharlatan erkannt, der er ist. „Tod den Unterdrückern, ob Schah oder Führer“, war im ganzen Iran zu hören.

Dann die MEK oder Mujahedin Kalq. Die MEK hat ein ideologisches Problem mit diesem Aufstand. Sie sind eine Sekte, deren weibliche Mitglieder gezwungen werden, rote Kopftücher zu tragen. Ihre Entstehungsgeschichte reicht von der Verbindung marxistischer und islamischer Ideologien, die vor 1979 von Marxisten-Leninisten gekapert wurden, bis hin zu einer Sekte, die heute im Dienste kapitalistischer und imperialistischer Staaten steht. Dennoch verbrennen die Frauen im Iran ihre Kopftücher und den Koran. In diesem politischen Klima haben sie kein Mitspracherecht.

Dann gibt es kommunistische Parteien, die Rojava verachten und immer schlecht über es reden. Ihre entlarvte und verrostete Klassenanalyse hilft ihnen nicht dabei, die Herzen hier zu gewinnen.

Bei all ihren Reden und ihrer Propaganda für Säkularismus und Feminismus hatten sie nicht einen einzigen Slogan, der auf die Befreiung der Frauen ausgerichtet war. Und ihre Ideologie hinderte sie daran, „Frauen, Leben, Freiheit“ zu skandieren. Sie hatten nichts zu sagen, also hielten sie den Mund. Deshalb ist ihre Präsenz bei den heutigen Protesten viel schwächer.

Die anarchistische Bewegung wächst im Iran. Dieser Aufstand, der führerlos, feministisch und antiautoritär ist und Rojava-Slogans skandiert, hat dazu geführt, dass Anarchisten, die der Föderation angehören oder nicht, eine starke Präsenz bei diesem Aufstand haben. Leider wurden auch viele verhaftet und verletzt.

Wir arbeiten daran, das antikapitalistische Potenzial dieser Bewegung zu verwirklichen. Denn die Islamische Republik ist ein Todeskult und Religion, Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus sind ihre ideologischen Säulen. Damit wir leben können, müssen wir frei sein und das geht nicht, ohne dass die Befreiung der Frauen im Vordergrund steht.

BRRN: In Solidarität. Ich danke euch für eure Zeit.

FAE: Solidarität.


Rede von Rain aus Lützerath

Posted: September 22nd, 2022 | Author: | Filed under: Uncategorized | No Comments »

Am 3.9.22 fand eine Demonstration von Keyenberg nach Lützerath statt, welche für den Erhalt des Dorfs Lützerath, sowie den Abbaustop von Braunkohle im rheinischen Revier protestierte.
Bevor die Demonstration startete gab es einige starke und einprägende Reden, bspw. wurde an diesem Tag viel auf das Thema Antirassismuss und Intersektionalismus gesetzt. So gab es sehr gute Reden und Musikacts von BIPoC¹.

Eine Rede ist uns aber besonders im Gedächtniss geblieben. Die Rede von Rain. Im Folgenden wollen wir diese Dokumentieren und uns alle ins Gedächtniss rufen das täglich Tausende in Gefängnissen dieser Welt sitzen und kein Teil der Rebellion sein können.
Freiheit für ALLE Gefangenen, sprengt alle Knäste!

Haus der Unbekannten am 22.9.22

 

 

Ich bin Rain. Meine Pronomen sind dey/them. Diesen Namen habe ich mir ausgesucht. Rain
bedeutet Freiheit. Rain bedeutet, dass ich den Himmel sehen kann. Rain ist die Hoffnung
gemeinsam etwas verändern zu können.

In meiner Rede gibt es Triggerwarnings zu: physischer und psychischer Gewalt, Gewalt
gegen Kinder, Polizeigewalt und Gewalt gegen Schwarze Indigene und people of color.

Als Kind habe ich noch daran geglaubt, dass der Staat meine Rechte schützt.
Ich bin in einer Familie voller Gewalt aufgewachsen. Mein Vater ist konservativ und meine
Mutter ist eine Rassistin, Coronaleugnerin und Verschwörungstheoretikerin. Wenn ich also
rufe „Eure Kinder werden so wie wir“, dann sehe ich mich auch als Kind derer, von denen
die Gewalt ausgeht ich aber gleichzeitig für eine bessere Welt kämpfe.
Alles was ich kannte war Gewalt. Schläge, Tritte, Schreie. Genau deshalb hatte ich mich so
verzweifelt an meine Rechte als Kind geklammert, aber wenn du ein Kind bist, kämpft
niemensch für deine Rechte. Weder Jugendamt, Polizei noch Gerichte haben mir geholfen.
Ihre Antwort war: Die Heime sind voll. Ich weiß ich bin kein Einzelfall, aber alle Kinder sind
damit alleine.

Wenn sie mir nicht helfen tun sie mir doch wenigstens nicht weh, oder? Leider schon und
dabei scheinen sie teils sogar richtig Spaß zu haben. Am 3. August bin ich das 1. Mal in die
GESA gekommen, GESA bedeutet Gefangenen Sammelstelle².
Ich und andere Aktivisti aus Lützerath hatten uns RWE in den Weg gesetzt. Mit einer
friedlichen Sitzblockade wollten wir verhindern, dass ein Bagger vor Lützerath, unserem
gewählten Zuhause einen Erdwall errichten kann. Diese Erdwälle gemeinsam mit Schildern
sollen zeigen: Hier fängt das Tagebauvorfel an. Blöd nur: Ohne Erdwall und Schildchen ist
das nämlich gar nicht so klar und da könnten Menschen ganz ausversehen einen Betrieb
stören, der Profit über Menschenleben stellt.

Ich und meine Bezugi wollten keiner Polizeigewalt ausgesetzt werden. Aber dann ging alles
plötzlich ziemlich schnell und wir saßen mit anderen in einem Polizeikessel. – Weil wir T
Shirts auf dem Kopf und Schals im Gesicht hatten. Darunter war ein minderjähriger Mensch.
Nachdem wir mehrere Stunden in der prallen Sonne auf dem Feld eingekesselt saßen,
brachten sie uns einem nach dem anderen weg. Sie versuchten meine Fingerabdrücke zu
bekommen. Mit Schmerzgriffen an Händen, Armen und Kiefer machten sie von mir Fotos.
Wir saßen stundenlang im überhitzten GESA Transporter. Die Klimaanlage funktionierte
nicht und mehrere Menschen hatten Kreislaufprobleme.

Früher musste ich die Erfahrung machen, dass die Polizei mir nicht hilft ,wenn meine Rechte
verletzt werden, jetzt müssen wir tagtäglich die Erfahrung machen, dass die Polizei unsere
Rechte aktiv verletzt.

Mein Recht auf medizinische Versorgung wurde verletzt.
Sie haben mich mit einer möglichen Gehirnerschütterung in einen GESA Transporter
eingesperrt und sind gegangen. Mir war übel und schwindlig, was bei einer
Gehirnerschütterung tötlich sein kann. Ich hatte Angst das mir alleine in dieser Metallzelle
etwas passiert. Irgendwann gab ich es auf gegen die Türe zu treten und um Hilfe zu rufen.Während wir vor dem Polizeirevier in Erkelenz warteten, kam ein Arzt um sich meine Gehirnerschütterung anzuschauen. Er hat nur meinen Blutdruck und Sauerstoffgehalt
gemessen. Statt mich zu untersuchen, wurde ich wiederholt gefragt: Und wer zahlt das? Als
der Arzt mit den Polizisten darüber sprach, dass diese sicher noch meinen Namen
herausfinden werden und ich dann für die Kosten aufkommen werden müsse, brach für mich
eine Welt zusammen. Das Ausüben von Repressionen wird als wichtiger angesehen als
mein Leben.

Unser Recht auf ein erfolgreiches Telefonat mit unserem Anwalt wurde verletzt.
Ich und eine Aktivistin neben mir in der Zelle forderten mit Klingeln und Klopfen ein
erfolgreiches Telefonat mit unserem Anwalt ein.

Das Recht auf Essen, Wasser und Lesematerial wurde verletzt.
In diesen 7 Tagen gab es ein einzige Mal, dass ein Freund von mir versucht hatte, mit uns
zu kommunizieren. Er war so weit weg, dass er minutenlang diesen ein Satz rufen musste,
seine Stimme klang so verzweifelt. Ich – möchte – eine – Scheibe – Brot – haben. Während wir mit
unserem Anwalt telefonieren wollten, hat er nichtmal Essen bekommen. Später hat er uns
erzählt, dass sie ihm sogar das Wasser abgedreht hatten und ihm seine Sachen für eine Zeit
weggenommen hatten. Dazu gehören Bücher, Briefe und der richterliche Beschluss.

Unser Recht auf korperliche Unversehrtheit wurde verletzt
Die letzten Stunden waren die schlimmsten. Wir mussten eine Identitätsbehandlung über
uns ergehen lassen. Also wieder Fotos und Fingerabdrücke. Sie pressten den Schlagstock
auf meinen linken Unterarm und zogen daran. Mein Arm hat so wehgetan, dass ich Angst
hatte sie brechen ihn mir. In meiner Verzweiflung habe ich gesagt, wenn du mir den Arm
brichst, zeige ich dich an. Er hat weitergemacht.
Die Polizei kann willkürlich ungerechtfertigt und unkontrolliert Gewalt ausüben. Es gibt kein
Kontrollorgan für unsere Exekutive. Wenn mir der Cop den Arm bricht muss ich ihn bei der
selben Institution anzeigen.

Ich hatte geglaubt der Richter würde unparteiisch sein, aber er lachte mit den Polizisten und
machte für sie das Formular fertig, ohne sich selbstständig mit uns auseinanderzusetzen.
Die in der Praxis nicht funktionierende Gewaltenteilung zerstörte mein Vertrauen in unsere
Demokratie und unseren Rechtsstaat komplett.

Nachts hörten wir stundenlang die Schreie von anderen, ich wurde 3 mal in eine
videoüberachte Zelle geworfen, und beim Duschen kam ein männlicher Polizist ins Bad. Ich
hörte öfters, wie sie es ausnutzten, wenn Menschen kein Deutsch sprachen. Von einer
englischsprachigen Person der gesagt wurde red deutsch mit mir, bis zur Androhung einer
Abschiebung.

Draußen – das heißt wir haben es geschafft?
Ich bin zitternd, weinend und verprügelt rausgekommen. Dabei wollte ich stark sein, wenn
ich aus dieser Türe gehe. Ein Freund kam nach mir raus. Seine Lippe war aufgeplatzt und
aus seiner Nase floß Blut. Das schlimmste war, in den ersten Minuten saß er nur still, in sich
gekehrt, fast schon apathisch auf einem Stuhl und hat nichts gemacht. Einfach ins Leere
geschaut. Dabei ist er sonst so fröhlich, voller Energie und Tatendrang. Mit der Gewalt gegenüber mir konnte ich noch irgendwie klarkommen, aber nicht damit, dass ihm, meinen Freunden und anderen Menschen Gewalt zugefügt wird. Und das kann ich nicht stoppen.

Über 200 Menschen werden im Kampf für Klimagerechtigkeit jährlich ermordet. Das trifft
vorallem MAPA – MAPA bedeutet most affected people and areas.

Während wir in der GESA waren, erschoss die Polizei einen 16-Jährigen schwarzen Jungen³,
3 weitere Menschen starben in dieser Woche durch Polizeigewalt. Diese Morde und die
unzähligen Morde und rassistischen Anschläge, die von der Polizei ausgegangen und
geduldet wurden – von Rostock – Lichtenhagen, Oury Jalloh in Dessau, die Anschläge in
Hanau… die Liste ist so lang. Wir tragen dafür die kollektive Verantwortung. Ein Staat der
schlägt, einsperrt und tötet. Jeder Polizist entscheidet sich bewusst mit der Jobwahl, diese
strukturelle rassistische Institution zu unterstützen.

Die Polizei, als Exekutive schützt den Status quo. Ein kapitalistisches System, das von
Ungleichheit profitiert und Menschen ausbeutet. In NRW sehen wir, dass sie um jeden Preis
den Profit von RWE schützt. Echter Klimaaktivismus muss antirassistisch, antikapitalistisch
und antikolonialistisch sein. Klimagerechtigkeit ist nicht verhandelbar.

Die Polizei versucht Klimaaktivist*innen zu kriminalisieren jedes Jahr kommen durch neue
Polizeigesetze schwerere Repression dazu. Polizeigewalt kann jeden treffen. Auch dich. Die
psychischen und physischen Auswirkungen der Polizeigewalt sind lang anhaltend und oft
schwer zu ertragen. Aber sie werden uns nicht mit Repression unterkriegen. Im Gegenteil,
wir schließen uns dem Kampf der most affected people and areas an. Wir sind
entschlossener denn je, Lützerath zu verteidigen. Wir können uns nicht darauf verlassen,
dass der Staat sich für unsere Zukunft einsetzt, aber wiir können gemeinsam etwas
verändern.

Ihr könnt meine Hoffnung sein, dass wir etwas verändern.

 

1) BIPoC steht für Black, Indigenous and People of Colour (Schwarze, Indigene und Menschen die nicht weiß sind). BIPoC erfahren täglich verschiedenste Formen von Unterdrückung, auch in der sogenenanten linken Szene(inkl. der Klimabewegung). Die häufigste Unterdrückungsform ist Rassismus, aber auch Sexismus oder Klassimus erfahren BIPoC häufiger als andere Menschen.

2) GESA, Gefangenen Sammelstelle sind oft einfache Polizeireviere. Sie können aber auch, insbesondere bei geplanten Großeinsätzen extra aufgebaute Orte sein, wie 2017 beim G20 oder 2020 im Danni. Oft sind dies dann kleine Container-Dörfer/Burgen, die stark militarisiert aufgebaut sind (Zäune, Stacheldraht, Kameras, Securitys). Dort werden Menschen ID-Behandelt, dass bedeutet es wird versucht mit allen „legalen“ Mitteln eine Person dazu zubringen ihr ID anzugeben oder diese heraus zufinden, durch Fotos von Gesicht, Tattoos oder anderen besonderen Körpermerkmalen, wie Verbrennungen oder Muttermalen. Auch wird versucht durch Gewaltanwendung Fingerabdrücke zu nehmen. Menschen die sich dagegen (passsiv) wehren sind häufig starker Repressionen und Schmerzen ausgesetzt. In besonderen Fällen kann es auch dazu kommen das Blut- oder DNA-Proben genommen werden, dazu brauch es in der Regel aber einen richterlichen Beschluss.

3)
https://nitter.net/solimouhamed/status/1570811473282347009#m

Polizei erschießt 16-jährigen in der Dortmunder Nordstadt


https://aa170.noblogs.org/post/2022/08/08/polizei-erschiesst-16-jaehrigen-in-der-dortmunder-nordstadt/
https://aa170.noblogs.org/post/2022/08/10/pm-400-demonstrantinnen-ziehen-nach-einer-kundgebung-zur-wache-nord-und-fordern-aufklaerung/